— Brave, not perfect —

Man hat das Gefühl, gegen bestehende Rollenbilder ankämpfen zu müssen.

Jaël Malli
Jaël Malli, 44
Musikerin und Sängerin
Zwei Kinder (1 und 6 und Jahre)

Die Schweizer Sängerin Jaël Malli ist Mama von zwei Kindern. Nach der Geburt ihres Sohnes Eliah konnte sie sich zunächst nicht vorstellen, dass er später noch ein Geschwisterchen bekommen würde. Denn er war ein Schreibaby, schlief kaum und war immer unzufrieden: eine Belastungsprobe für die Familie. Seine kleine Schwester Liala, die im August 2022 auf die Welt kam, macht es Jaël und ihrem Mann leichter. Die Aufzeichnung einer Künstlerin, die offen darüber spricht, wie sie es schafft, Familie, Musik und Konzerte unter einen Hut zu bekommen.

«Wenn ich gefragt werde, wie ich es schaffe, Familie und Beruf zu vereinbaren, weiss ich erst einmal nicht, was ich antworten soll. Ich bin mir nämlich selbst oft nicht sicher, ob ich das so gut hinbekomme. Ich suche immer wieder nach Möglichkeiten, etwas Platz im Terminkalender zu schaffen und meinen Alltag so zu gestalten, dass ich nicht im Dauerstress bin. Momentan fühlt es sich für mich leider oft danach an. Ich habe dann das Gefühl, dass es mir zu viel wird. Mein Körper signalisiert mir das auch immer wieder.  Wir haben Unterstützung von einer Betreuungsperson, wofür ich sehr dankbar bin. Sie unterstützt uns monatlich für eine bestimmte Zeit. Sie zu finden war gar nicht so einfach. Aber ich gebe auch zu, dass das teilweise an mir selbst gelegen haben kann. Als Musikerin hat man jede Woche ein anderes Programm. Verlässlich zu planen ist eine Herausforderung. Bis vor Kurzem brauchte ich zwei Betreuungspersonen gleichzeitig: Jemanden, der meinen Sohn in Bern aus der Kita abholte und jemanden, der mich und meine Tochter, die ich damals auch tagsüber noch stillte, unterwegs auf Interviews und Konzerten unterstützt. Das zu organisieren, war je nach Terminplan von meinem Mann sehr schwer. Wir suchen also eigentlich ständig nach Lösungen, die für möglichst alle von uns tragbar sind.»

Als Mama kreativ sein? Eine Herausforderung. 

«Ich bin ganz ehrlich: Die ersten zwei Jahre mit unserem Sohn Eliah waren einfach totaler Ausnahmezustand. Er war ein Schreibaby. In der Nacht wachte er alle 45 Minuten auf und wollte gestillt werden. Er schlief nur kurz und tagsüber oft nur, wenn ich ihn trug und in Bewegung war. Das hat mich an meine Grenzen gebracht – körperlich und emotional. Ich habe mich dann entschlossen, statt drei Monaten über ein Jahr zu Hause zu bleiben. Alles andere hätte schlicht nicht funktioniert. Im zweiten Jahr fing ich wieder an zu arbeiten – nahm im Studio ein neues Album auf, veröffentlichte es und gab unendlich viele Interviews. Das hat mir zugesetzt. Als dann eigentlich meine Tour zum Album starten sollte, war ich physisch und psychisch am Ende. Ich konnte nicht mehr schlafen und war nur noch erschöpft. Das war zu Beginn der Corona-Pandemie. Plötzlich ging die Schweiz in den Lockdown und ich musste auch die geplante Tournee verschieben. Aus heutiger Sicht war das eine glückliche Fügung. Die Erfahrung hat mich geprägt. Heute achte ich viel bewusster darauf, mich so zu organisieren, dass ich nicht wieder irgendwann total ausgebrannt bin.»

Erst die Kinder, dann neue Projekte 

«Das funktioniert zum Beispiel dadurch, dass ich neue Projekte erst angehen werde, wenn Liala aus den ersten Babyjahren heraus ist. Zurzeit ist, ehrlich gesagt, nur ein Minimum an Arbeit möglich. Für meinen Job als Sängerin und Songwriterin brauche ich Raum im Kopf. Zeit, um kreativ zu sein und neue Songs zu schreiben. In der Woche habe ich nun da Liala jährig ist um die zweieinhalb Tage, die ich tagsüber ohne die Kids verbringe. Da erledige ich alles, was gemacht werden muss und teilweise muss ich auch etwas ruhen, wenn ich etwa am Vorabend ein Konzert spielte und erst spät ins Bett kam und dann Liala noch stillte in der Nacht. Und für mehr reicht die Energie mit zwei Kleinkindern auch nicht. Ich versuche, Büroarbeit zu erledigen, wenn die Kleinen im Bett sind. Aber merke oft, dass ich mich nach einem langen Tag nicht mehr konzentrieren kann und sich Fehler einschleichen.»  

Die Elternzeit ist viel zu kurz 

«Aus meiner Sicht ist bei uns in der Schweiz die Elternzeit zu kurz. Es fehlen zudem Betreuungsangebote für daheim. In anderen Ländern ist es selbstverständlich, dass man schon im Wochenbett Betreuung und Unterstützung bekommt. In der Schweiz muss man das selbst organisieren – und das gelingt bei weitem nicht immer. Ich finde, man sollte auch offen über die unschönen Seiten des Elternwerdens sprechen: Als Frau hat man nach der Geburt Schmerzen, ist geschwächt und ist, auch wenn man keine postnatale Depression hat, noch völlig im Hormonchaos. Eigentlich unvorstellbar, dass der Vater nur wenige Tage nach der Geburt wieder zur Arbeit geht. Dann ist man als Frau allein daheim, mit einem Neugeborenen und vielleicht sogar noch einem Geschwisterchen. Wie soll man dann wieder zu Kräften kommen? «It takes a village to raise a child» ist kein sinnleeres Sprichwort. Man braucht dieses sprichwörtliche Dorf, aber das hat in seinen eigenen vier Wänden kaum jemand um sich.»

Tief verankerte Rollenverteilung

«Auch nach der Geburt landet die Care Arbeit in den meisten Familien überwiegend immer noch bei den Frauen.  Ich habe das Gefühl, man muss als modernes Paar gegen diese tief in uns verankerten Rollenbilder regelrecht kämpfen. In Deutschland kann man bis zu drei Jahre Elternzeit nehmen. In Dänemark haben Eltern einen gemeinsamen Anspruch auf eine Elternzeit von 48 Wochen nach der Geburt. Das ist in der Schweiz ganz anders. Ich bin überzeugt, dass, solange sich diese Rahmenbedingungen nicht ändern, man sich als Paar noch so sehr bemühen kann. Man wird nach der Geburt immer wieder unfreiwillig in die Falle tappen, dass der Mann mehr arbeitet als die Frau. Das ist frustrierend. Wie können wir etwas ändern? Lasst uns doch damit beginnen, dass wir ehrlich benennen, wie die Realität aussieht. Es sollte doch normal sein, dass der Vater sich die Care-Arbeit mit der Mutter teilt. Stattdessen gibt es immer viel Lob, wenn man mal einen«Papi-Tag» in der Woche absolviert. Die Frau hat dann aber immer noch einen bedeutend höheren Zeiteinsatz. Eine Voraussetzung hierfür ist die gerechte Bezahlung von Männern und Frauen. Frauen dürfen nicht schlechter bezahlt sein als Männer. Nur so kann jedes Paar unabhängig entscheiden und muss sich nicht von finanziellen Faktoren beeinflussen lassen. Wer sich für eine Kinderbetreuung entscheidet, sollte diese zu finanziell stemmbaren Bedingungen erhalten. Von Kitas wünsche ich mir mehr Flexibilität. Wir haben erlebt, dass viele mindestens zwei Betreuungstage in der Woche zur Bedingung gemacht haben. Wer sein Kind halbtags in die Hände einer guten Kinderbetreuung geben möchte,
sollte das auch dürfen.»

Mama sein und Karriere machen dürfen

«Ich habe es erlebt, dass selbst die modernsten Paare nach der Geburt eines Kinder zurück in die Sechzigerjahre katapultiert wurden. Sie bleibt beim Kind, er arbeitet. Paare aus kreativen Berufen sind dagegen etwas resistenter, da sie vom Zeitmanagement her oft flexibler sind und sich so organisieren, dass sie die Care-Arbeit aufteilen können oder der Papa sogar den Grossteil davon übernimmt. Für mich vergeht die Zeit mit meinen Kids einfach so schnell. Ich bin froh über die Momente, die ich mit ihnen verbringen kann. Ich war immer total überzeugt, dass ich auch als Mama weiterarbeite. Das hat sich geändert. Ich will unbedingt viel Zeit mit meinen Kindern verbringen. Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich es mir erlauben kann, meine Prioritäten so zu setzen, dass momentan meine Kinder Vorrang vor der Arbeit haben. Ich bin seit 20 Jahren Musikerin und habe nicht das Gefühl, irgendetwas zu verpassen, wenn ich mir während der Kleinkinderjahre mehr Zeit für meine Kinder nehme.»

Über Veränderung sprechen

«Diese klassische Rollenverteilung vom Ernährer und der Fürsorgerin ist immer noch ganz tief in unserem Denken verankert. Hier kann sich nur etwas verändern, wenn wir immer wieder darüber sprechen, moderne Rollenbilder vorleben, darüber reden und Bedingungen schaffen, in denen diese Stereotypen obsolet werden.»

«Diese klassische Rollenverteilung vom Ernährer und der Fürsorgerin ist immer noch ganz tief in unserem Denken verankert. Hier kann sich nur etwas verändern, wenn wir immer wieder darüber sprechen, moderne Rollenbilder vorleben, darüber reden und Bedingungen schaffen, in denen diese Stereotypen obsolet werden.»

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