— Brave, not perfect —

Meine Familie weiss, wie wichtig sie mir ist – auch, wenn ich beruflich gefordert bin.

Prof. Nicole Ochsenbein-Kölble
Prof. Nicole Ochsenbein-Kölble, 50
Klinikdirektorin Klinik für Geburtshilfe Universitäts Spital Zürich, Lehrbeauftragte UZH
Vier Kinder (zwischen 13 und 20 Jahren)

Im September 2022 wurde im grössten Universitätsspital der Schweiz, dem Unispital Zürich, zum ersten Mal eine Frau Leiterin der Geburtsklinik, Prof. Nicole Ochsenbein-Kölble. Sie ist ausserdem Mutter von vier Kinder. Als Lehrbeauftragte an der ETH Zürich forscht sie zu verschiedenen wissen­schaftlichen Fragestellungen und bildet sich ständig weiter. Ein Gespräch über volle Terminkalender und den wichtigen Rückhalt der Familie.

Frau Prof. Ochsenbein, wie schaffen Sie es all Ihren Verpflichtungen gerecht zu werden?

Mit einem sehr geduldigen Ehemann und sehr geduldigen Kindern.

Ihr Mann ist also kein Arzt?

Nein, er ist Ökonom und kann sich zum Glück seine Zeit selbst einteilen. Er ist viel flexibler als ich. Was aber nicht bedeutet, dass er mich nicht gelegentlich an Familienpflichten erinnert, wenn ich wieder ein Wochenende durcharbeite.

Stellte sich für Sie je die Frage, zwischen Familie und Beruf entscheiden zu müssen?

Nein. Für mich war immer klar, dass ich Kinder und eine Familie haben will. Und diese zuerst kommt. Gleichzeitig wollte ich immer auf eigenen Beinen stehen. Ich hatte einfach das Glück, dass mein Mann mich darin unterstützt – und es auch meine Kinder tun. Er findet meine Forschungsprojekte fast spannender als ich und motiviert mich dadurch, wenn ich abgekämpft nach Hause komme und mich noch an den Schreibtisch setzen muss. Meine Kinder kochen inzwischen für mich. Kurzum: Meine Familie unterstützt mich enorm. Sonst würde es nicht gehen. Das ist der Hauptgrund, warum ich da bin, wo ich heute bin. Ich habe einen der schönsten Berufe, auch wenn er sehr anstrengend ist. Und es ist im Grunde die Sinnhaftigkeit, die entscheidend ist, dass man beides schultern kann.

Sie haben vier Kinder, was bedeutet das?

Es gibt nichts Besseres. Und wäre mir mein Mann noch früher über den Weg gelaufen, hätten wir diese Diskussion vielleicht noch etwas weitergeführt.

Inzwischen sind Ihre Kinder schon älter. Aber was bedeutete es, vier kleine Kinder zuhause zu haben?

Das war anstrengend. Wir haben alles ausprobiert: Krippe, Au-Pair und anderes. Meine Schwiegereltern sind in unsere Nähe gezogen, weil die nach der Geburt meiner ersten Tochter so begeistert von ihr waren. Sie hat sie so um den Finger gewickelt, dass für uns die Randzeiten abgedeckt waren. Das war perfekt. So mussten wir sie nicht zur Krippe bringen und abholen, weil deren Öffnungszeiten nicht mit unseren Arbeitszeiten kompatibel waren – und schon gar nicht mit meinen als Ärztin. Als dann die weiteren Kinder kamen, haben wir jemanden angestellt. Ab zwei Kinder rentiert sich das.

Gab es Momente, in denen Sie sich als Mutter unwohl gefühlt haben?

Ja, die gab und die gibt es immer wieder. Etwa dann, wenn meine Kinder im Kindergarten oder in der Schule irgendeine Aufführung hatten und alle Eltern schon auf ihren Stühlchen sassen und ich abgehetzt rein schlich, gerade noch rechtzeitig vor dem Auftritt meines Kindes. Sich dann zu fragen: Was war es jetzt eben noch gerade, dass Du es wieder fast nicht geschafft hast? Das waren solche Momente. Oder wenn man sich hätte durch zehn teilen sollen, was einfach nicht geht. Einmal, als mein Sohn vier war, klingelte das Telefon, weil ich Notdienst hatte. Wir hatten andere Pläne, aber ich musste gehen und erklärte ihm, dass jemand blute und ich helfen müsse. Er fragte: Warum bist Du Helferin? Aber umgekehrt habe ich auch gelernt zu erkennen, um was es wirklich geht: In dem Moment trotzdem für das eigene Kind da zu sein. Das hat mich immer wieder ins Gleichgewicht gebracht. Und ich habe mir auch immer gesagt, sollten mir meine Kinder Vorwürfe machen, dass ich nicht da bin, dann würde ich meinen Job an den Nagel hängen.

Aber Ihre Kinder haben Ihnen nie Vorwürfe gemacht?

Nein, aber es gab auch keinen Grund. Wenn ich zuhause bin, bin ich da. Klar, es können Notfälle geschehen – ich bin Ärztin, ich arbeite in einem Spital, es gehört einfach dazu. Aber ich bin in der glücklichen Lage, dass ich eine Familie habe, die weiss, dass sie mir das Wichtigste ist, auch wenn ich beruflich sehr gefordert bin. Darum ist es mir auch so wichtig, dass es Freizeit für uns gibt. Die haben wir ganz klar definiert. Gelegentlich kommt etwas dazwischen, dann wird alles wieder auf den Kopf gestellt. Aber diese Flexibilität funktioniert bei uns sehr gut.

Wie beurteilen Sie die Situation für berufstätige Mütter in der Schweiz?

Ich war im Ausland, in Belgien, da gab es staatliche Kinderkrippen und überhaupt keine Diskussion, dass man trotz Kindern wieder arbeiten geht als Frau und Mutter. Hier in der Schweiz ist es so, dass sich Eltern selbst organisieren müssen. Und jede berufstätige Mutter weiss, was das bedeutet. Ich glaube auch, dass Kitas mehrheitlich von Frauen geleitet werden, weil sie am Schluss die Leidtragenden sind, wenn sie sich nicht organisieren.

Welche Erfahrung haben Sie selbst gemacht?

Vor 20 Jahren war es viel schlimmer als jetzt. Damals gab es fast keine Plätze, man musste sich eigentlich schon um einen Platz bewerben, bevor man schwanger war. Mittlerweile hat sich das zum Glück verbessert. Aber am Ende bleibt es in der Verantwortung der Eltern und damit oft der Mütter, sich zu organisieren.

Haben Sie als Mutter beruflich Nachteile erfahren?

Nein, in meiner Wahrnehmung nicht. Aber ich habe auch nie gefehlt, weil meine Kinder krank waren oder sonstiges. Ich habe es immer organisiert bekommen, natürlich weil ich Unterstützung durch die Familie hatte. Für mich war die Stillzeit eine sehr gute Zeit, weil ich endlich Zeit hatte, meine Papers zu schreiben. So gesehen habe ich immer signalisiert, dass Kinder kein Grund sind, nicht zu arbeiten.

Was würden Sie Ihren Töchtern und Söhnen raten?

Dass sie den richtigen Partner oder die richtige Partnerin finden. Das ist das A und O. Und dass es immer einen Weg gibt, man muss ihn einfach wollen. Und dass sie darauf achten, auf eigenen Beinen zu stehen – nicht abhängig zu sein. So erziehen wir sie auch. Und ich freue mich schon jetzt auf Enkelkinder! Dann kann ich die Unterstützung, die ich von meinen Kindern erfahren habe, auch ihnen weitergeben.

Sie sind Leiterin einer Klinik, haben also auch die Verantwortung für jüngere Ärztinnen, die vielleicht Kinder bekommen. Wie erleben Sie diese Situation?

Die Erfahrung einer eigenen Schwangerschaft und eigener Kinder ist gerade in der Geburtshilfe sehr wertvoll. Wer das noch nie erlebt hat oder keine Kinder zu Hause hat, der kann nicht nachvollziehen, was es bedeutet, wenn gleichzeitig Windeln gewechselt werden müssen, ein Termin wartet und das Baby gerade etwas anders machen will. Oder dass man in einer Schwangerschaft als Frau anders funktioniert als sonst.

Auch wenn die Mütter als Arbeitskräfte zeitweise ausfallen?

Natürlich könnte ich in der Verantwortung des Arbeitgebers sagen, eine Schwangerschaft bedeutet einen Ausfall. Oder eine berufstätige Mutter eine Belastung, weil sie Flexibilität braucht. Aber es findet sich immer eine Lösung. Unsere Kinder sind die Zukunft. Darum unterstütze ich das. Klar, wenn meine ganze Mannschaft gerade schwanger ausfällt, sehe ich das vielleicht nicht mehr so. Aber wenn nicht ich Verständnis und Flexibilität für diese Situation habe, dann frage ich mich, wer dann.

«Ich glaube auch, dass Kitas mehrheitlich von Frauen geleitet werden, weil sie am Schluss die Leidtragenden sind, wenn sie sich nicht organisieren.»

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