— Förden statt Hüten —

Den Kinderschuhen entwachsen – Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Schweizer Kitas

Eine Betreuerin für 150 Kinder

Die erste Möglichkeit, seine Kinder ausserhalb der eigenen vier Wände betreuen zu lassen, waren Kleinkinderschulen und Kindergärten, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden. Zu dieser Zeit begannen die ersten Frauen, einer Arbeit nachzugehen. Das hatte das bis dahin vorherrschende Rollenbild der Frau eigentlich nicht vorgesehen. Müttern war es zugedacht, mit den Kindern zuhause zu bleiben und sich um den Haushalt zu kümmern. Finanziell funktionierte das für viele Familien aber einfach nicht mehr. So gingen 1870 schon mehr als die Hälfte der Schweizer Frauen einer Arbeit nach. Ihre Kinder konnten sie allerdings erst in eine der Schulen geben, wenn diese drei Jahre alt waren. Angesichts des Verhältnisses von einer Betreuungsperson für 150 Kinder glichen die Schulen aber eher einer Massenabfertigung. Mit den Angeboten von heute hatten sie gar nichts gemeinsam.

Die erste Krippe wurde 1870 in Basel gegründet.

Die Schweiz investiert nur 0,1 % des BIP in die familienergänzende Betreuung. Andere OECD-Länder investieren durchschnittlich 0,8 %. 

Das BIP könnte um 6 % gesteigert werden, wenn Mütter vollumfänglich berufstätig wären.

Laut Unicef Studie belegt die Schweiz Platz 38 von 41 zum Thema Kinderbetreuung im OECD-Ländervergleich.

Die Geburtenrate in der Schweiz liegt bei 1.46 Geburten pro Frau. In Frankreich bei 1.83. 

Rückendeckung für Arbeiterfamilien

Ab Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts entstanden weitere Angebote. Die Initiative hierfür ging von Privatleuten aus: Frauenvereine, Ärzte und Pfarrer gründeten Krippen oder Horte für die älteren Kinder. Diese befanden sich in den meisten Fällen in Arbeiterquartieren, wo der Andrang auf die Betreuungsangebote gross war. Allerdings stellten die Organisationen auch Bedingungen an die Eltern. Die Kinder unverheirateter Frauen wurden aus moralischen Gründen abgewiesen. Man musste seinen Nachwuchs sauber, gebadet und gewickelt abgeben. Die individuelle und liebevolle Betreuung, die für uns heute selbstverständlich ist, gab es damals nicht. Die Einrichtungen kümmerten sich nur darum, dass die Kinder nicht «verwahrlosten», während ihre Eltern arbeiteten. Woran das lag? Wohl daran, dass die Anbieter der Betreuungseinrichtungen ihrem bürgerlich geprägten Rollenbild nachhingen. Sie setzen darauf, dass die Mütter schon bald nicht mehr arbeiten müssten und sahen sich demnach nur als Überbrückungshilfe, bis es so weit war. Bezahlen mussten die Familien die Betreuung schon damals. Daher wurden in Zürich zuerst fast ausschliesslich Kinder aus Handwerkerfamilien betreut. Die Menschen, die in den Fabriken tätig waren, konnten die Kosten kaum stemmen.

Für bürgerliche Familien war Kinderbetreuung damals kein Thema. Sie beschäftigten Kindermädchen oder Ammen. Die Mütter kümmerten sich um den Haushalt und andere Aufgaben.

Ein Rollenbild ändert sich

Ende des 19. Jahrhunderts änderte sich das Rollenbild der Frauen. Nach dem ersten Weltkrieg arbeiteten immer weniger von ihnen. Die Gesellschaft wies ihnen die Rolle «hinter dem Herd» zu, wo sie sich um den Haushalt und die Kinder kümmerten. Externe Betreuungsangebote wurden infolgedessen immer weniger nachgefragt. Die wachsende Mittelschicht konnte mit dem Vater als Alleinverdiener gut leben. 1941 erreichte die statistisch gemessene Erwerbstätigkeit von Schweizer Frauen einen Tiefpunkt. Nur noch 35 % von ihnen arbeiteten. Die Relevanz von Betreuungsangeboten sank ebenfalls. Für viele der Familien waren solche Angebote auch gar kein Thema: Die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf kam im öffentlichen und politischen Diskurs lange Zeit gar nicht vor. Anfang der Sechzigerjahre nahmen nur wenige Schweizer Familien Betreuungsangebote wahr. 

Pionierleistung der Italiener

Bewegung kam erst wieder in die Sache, als nach dem Zweiten Weltkrieg als erste ausländische Arbeitskräfte italienische Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen in die Schweiz kamen. Ihnen folgten Portugiesen, Spanier, dann Jugoslawen. Im Jahr 1960 stammten unglaubliche 75 Prozent aller Arbeitnehmerinnen in der Schweiz aus dem Ausland. Sie gründeten Familien, kehrten aber oft schon kurz nach der Geburt an den Arbeitsplatz zurück. Jetzt brauchte es Betreuungsangebote! Denn die Familien der Menschen waren im Ausland zurückgeblieben. Die Grosseltern konnten nicht einspringen. Angebot gab es allerdings weiterhin nicht, so dass man die Angelegenheit in die eigene Hand nehmen musste. Der italienische katholische Missionarsorden zum Beispiel begann die sogenannten «Asili» auszubauen. Hier wurden die Kinder der Gastarbeiter unter der Woche betreut und erhielten sogar ein Mittagessen. Etwas, das bis vor einigen Jahren immer noch nicht selbst verständlich bei Schweizer Betreuungsangeboten für Kinder war! Aber die Einrichtungen blieben in erster Linie den Kindern der Italienerinnen vorbehalten – wohl auch, weil hier italienisch gesprochen wurde und die Betreuerinnen aus dem Nachbarland stammten. Für Schweizer Familien blieb die Betreuung durch die Mutter die bevorzugte Lösung.

Forderung nach Bewegung

Erst ab den Siebzigerjahren bewegte sich in der Schweiz wieder etwas. Es arbeiteten wieder mehr Frauen, und die Frauenbewegung forderte aktiv ein grösseres Angebot an Betreuungsmöglichkeiten. Was uns aus heutiger Sicht völlig normal erscheint, war es damals übrigens nicht: Erst ab 1976 benötigten Frauen keine Erlaubnis ihres Mannes mehr, wenn sie arbeiten wollten.

Es entstanden neue Angebote, die Sichtweise auf die Betreuung begann sich zu ändern. Die Idee, sich wirklich mit den Kindern zu beschäftigen und auch pädagogische Aspekte in die Betreuung einfliessen zu lassen, setzte sich durch. Es entstanden Tagesmüttervereine. Deren Ziel war eine persönlichere Betreuung. Gleichzeitig sollten die Eltern mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten haben, wenn es um die Tagesbetreuung ihrer Kinder ging. Auch das Image von Krippen begann sich zu wandeln. Langsam waren sie keine Notlösung mehr, sondern wurden als sinnvolle und unterstützende Einrichtungen wahrgenommen. Es wurde in die Ausbildung des Personals investiert und die Einrichtungen professionalisierten sich. 

Noch viel zu tun

Die Politik erkannte den grossen Bedarf an Betreuungsangeboten erst, als die Geburtenrate in der Schweiz ab 1990 zurückging. Es wurde klar: Es muss mehr getan werden, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Der Sektor professionalisierte sich und der Staat übernahm private Vereine, darunter auch die noch existierenden italienischsprachigen «Asili». Es gab Anstossfinanzierungen zur Schaffung von mehr Angeboten. 

Trotz allem wurden im Jahr 2021 nur 36 % der in der Schweiz lebenden Kinder in einer Kindertagesstätte oder einer schulergänzenden Einrichtung betreut. Die Anzahl der Angebote ist weiterhin knapp und stark vom Standort abhängig. Hinzu kommen die hohen Kosten: Ein Vollzeit-Kita-Platz kostet in der Schweiz im Schnitt mehr als ein Viertel des gesamten Familieneinkommens. Im internationalen Vergleich ist das ein extrem schlechter Wert.2 Für viele Familien bedeutet das: Die Person mit dem geringeren Einkommen – und das ist noch immer oft die Mutter – arbeitet nur in Teilzeit oder zieht sich ganz aus dem Berufsleben zurück. 

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